Die Shortlist zum Sir Walter Scott-Preis 2012 für den besten historischen Roman ist veröffentlicht. Jury-Mitglied und Histo-Couch-Chefredakteurin Rita Kohn Dell’Agnese zur Auswahl der Bücher und ihrer Jury-Arbeit.
Quo Vadis: In diesem Jahr haben es fünfzig Titel von insgesamt 161 Bewerbungen auf die Longlist geschafft. Was zeichnet diese Bücher ganz allgemein aus?
Rita Kohn Dell’Agnese: Die 50 Romane der Longlist haben alle gemeinsam, dass sie mit großer Sorgfalt geschrieben worden sind und – mit wenigen Ausnahmen – auch optisch und haptisch etwas darstellen. Das Genre „Historische Romane“ hat sich etabliert, was man nicht nur an der großen Zahl von Neuerscheinungen festmachen kann, sondern auch an der Qualität der Romane. Diejenigen, die von der Vorjury in die Longlist aufgenommen wurden, haben eine erste Qualitätshürde geschafft und konnten überzeugen – das ist doch schon mal beachtlich. Bei 161 eingereichten Romanen ist die Konkurrenz ja recht groß.
QV: Gibt es Überraschungen, was das inhaltliche und sprachliche Repertoire der eingereichten Romane anbelangt?
RKD’A: Das hängt ganz davon ab, wie viel man von den eingereichten Romanen erwartet. Nach einem recht hohen Niveau beim Sir Walter Scott-Preis 2010 waren meine Erwartungen hoch. Und sie wurden nicht enttäuscht. Natürlich unterliegen auch die historischen Romanen gewissen Trends, was sich vor allem inhaltlich bemerkbar macht. Angenehm überrascht wurde ich davon, dass bei den 50 Romanen der Longlist viele starke und interessante Protagonisten auftauchten, die allerdings weit vom über lange Zeit gehätschelten Super-Helden-Image entfernt sind. Dadurch wirken die Romane reifer und letztlich auch faszinierender. Was das sprachliche Repertoire betrifft, so scheinen die Autoren der historischen Romane selbstbewusster geworden zu sein. Etliche gehen sprachlich eigene Wege, was sich auf die Vielfalt der Romane positiv auswirkt.
QV: Mittelalter und 19. Jahrhundert – derzeit beherrschen zwei Epochen das historische Genre. Spiegelt sich dieser Trend auch in der SWS-Longlist wider?
RKD’A: Es würde wohl die Wirklichkeit auf dem Literatur-Markt nicht richtig spiegeln, wenn diese beiden Epochen nicht auch unter den 50 Romanen der Longlist stark vertreten gewesen wären. Das Mittelalter umfasst ja eine Zeitspanne von mehreren hundert Jahren. Zudem ist es eine Zeit, in der viele Umwälzungen passiert sind, die sich als Romanstoff eigenen – da ist es nicht verwunderlich, dass das Mittelalter eine zentrale Rolle spielt. Ähnlich verhält es sich mit dem 19. Jahrhundert. Nur dass dieses noch bis in die heutige Zeit ausstrahlt und die Romane über diese Zeit den Kreist der Leser von historischen Romanen spürbar erweitert haben dürften.
QV: Der SWS-Preis 2012 zeichnet den besten historischen Roman aus, nach welchen Kriterien urteilt die Jury konkret?
RKD’A: Die Jury sucht den besonderen Roman, der auf einer breiten Ebene überzeugen kann. Da versteht es sich von selbst, dass Kriterien wie Recherche, sprachliche Umsetzung und überzeugende Figurenzeichnung eine wesentliche Rolle spielen. Auf diesem Fundament geht es dann um weitere signifikante Punkte wie Atmosphäre, überraschende Thematik oder temporeiche Erzählkunst. Nicht alle Romane sind in allen Punkten gleich stark – so galt es bei der Jurierung, den Mix aus Stärken und allfälligen Schwächen zu finden und die jeweiligen Ergebnisse sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Allerdings war es nicht ganz einfach, eine verbindliche Reihenfolge festzulegen.
Wie schaffen Sie es, fünfzig historische Romane in einem doch recht knapp bemessenen Zeitraum zu lesen und entsprechend zu würdigen?
RKD’A: Mit Mühe – und mit der Bereitschaft, den Jahresurlaub lesend im Garten zu verbringen. Da ich mich als stellvertretende Chefredakteurin der Histo-Couch auch sonst intensiv mit dem Genre „Historische Romane“ befasse, ist es mir nicht schwer gefallen, mich auf die Lektüre einzulassen.
QV: Was fasziniert Sie an der Jury-Arbeit?
RKD’A: Wohl am meisten, dass ich dabei immer wieder auf Romane stoße, die sich als Perlen herausstellen, die mir aber sonst entgangen wären. Zudem empfinde ich es als Herausforderung, die Romane unter einem ganz anderen Gesichtspunkt zu lesen, als ich es täte, wenn ich sie nur zur Unterhaltung lesen würde. Ich habe mich mit den 50 Romanen der Longlist auf eine besonders intensive Weise auseinandergesetzt und dadurch auch einen vertieften Zugang zu jedem einzelnen von ihnen gefunden. Das heißt zwar nicht, dass mir alle gleichermaßen gut gefallen hätten, doch ich fand bei allen 50 Romanen faszinierende Momente.
QV: Ihr Fazit in diesem Jahr?
RKD’A: Die historischen Romane werden ausgereifter, vielfältiger und mutiger. Sie bewegen sich auf einer wesentlich breiteren Ebene als noch vor ein paar Jahren. Gerade was das 19. Jahrhundert betrifft, sprechen die Autorinnen und Autoren auch Themen an, die bisher verdrängt wurden oder keine Öffentlichkeit gefunden haben.
Zur Person: Rita Kohn Dell’Agnese wurde 1962 in Zürich geboren. Später zog sie mit ihrer Familie in die Ostschweiz, wo sie heute noch in der Nähe des Bodensees lebt. Nach einer Ausbildung zur Bürokauffrau und Buchhalterin widmete sich Rita Kohn Dell’Agnese zunächst hauptsächlich ihrer Aufgabe als vierfache Mutter. 1988 folgte sie ihrer Liebe zum Schreiben und arbeitete zunächst als freie Journalistin für verschiedene regionale Medien, während sie berufsbegleitend das Medienausbildungszentrum in Luzern besuchte.
Heute ist Rita Kohn Dell’Agnese für eine größere Schweizer Tageszeitung tätig und widmet ihre Freizeit zum großen Teil ihrer Aufgabe als stellvertretende Chefredakteurin der Histo-Couch. Zudem engagiert sie sich in verschiedenen sozialen und kulturellen Projekten.
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Hinweis: Die Antworten dieser Interviewreihe stellen die vielfältigen Meinungen der jeweiligen Jurymitglieder dar und repräsentieren im Einzelnen nicht die des Autorenkreises.